Yanis Varoufakis galt für wenige Monate als der streitbarste Politiker in der Eurozone: Nach dem Wahlsieg der linken Syriza war er zwischen Jänner und Juli 2015 Finanzminister Griechenlands in der Regierung unter Premier Alexis Tsipras. Varoufakis versuchte vergeblich seine Amtskollegen zu einer Lockerung der Sparvorgaben für Griechenland zu überreden. Sein provokanter Stil stieß auf heftige Gegenwehr unter den Finanzministern, Varoufakis musste letztlich zurücktreten, und Griechenland gab im Sommer 2015 den Forderungen seiner Gläubiger nach. Wie sieht der Ex-Minister nun die wahrscheinlich künftige Regierung in Italien, die ebenfalls auf Konfrontationskurs mit der Eurozone zu gehen scheint?
STANDARD: Haben Sie Sympathien für die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung? Die beiden künftigen Regierungsparteien Italiens wollen über die strikten Haushaltsregeln in der Eurozone neu verhandeln, die Vorgaben lockern. Das wollten Sie einst auch.
Varoufakis: Es ist eine Tatsache, dass Italiens Wirtschaftsordnung nicht aufrechtzuerhalten ist unter den gegenwärtigen Regeln in der Eurozone und in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Dynamik. Es ist also nicht relevant, ob ich oder irgendwer anders Sympathien für diese Regierung hat oder nicht. Tatsache ist, dass die Sparpolitik der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und der Vorgängerregierungen in Rom eine Krise geschaffen hat, die dazu geführt hat, dass die Kräfte der politischen Mitte in Rom kollabiert sind.
STANDARD: Sie sagen, Italiens Wirtschaftsordnung ist im Eurosystem nicht aufrechtzuerhalten. Wie kommen Sie darauf? Italiens Wirtschaft hat 2018 wieder etwas zu wachsen begonnen. Die Verschuldung ist enorm hoch, steigt aber im Vergleich zur Wirtschaftsleistung derzeit nicht weiter an.
Varoufakis: Diese Darstellung entspricht dem, was die EU-Kommission uns glauben machen will. Aber makroökonomisch ist das falsch: Durch die Intervention der Europäischen Zentralbank wurde ein Zusammenbruch Italiens unter seinen Schulden vorerst verhindert. Aber die Probleme sind enorm. Da ist einmal die Kapitalflucht aus Italien nach Frankfurt und nach Luxemburg. Da ist das extrem geringe Wachstum. Sogar wenn es 2018 etwas besser läuft, sind die Zahlen ernüchternd, wenn man bedenkt, dass Italiens Wirtschaft seit gut 20 Jahren nicht mehr wächst. Die hohe Verschuldung des Landes ist mit dieser schleppenden Entwicklung nicht vereinbar. Das langsame Wachstum verhindert zudem, dass sich der Finanzsektor erholt und die extrem hohe Rate an faulen Krediten zurückgeht. Sogar wenn Gott und seine beziehungsweise ihre Engel alle Vorgaben der Eurozone in Italien umsetzen, würde das Land früher oder später aus dem Euro ausscheiden müssen.
STANDARD: Wie beurteilen Sie die Pläne der künftigen Regierung? Die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega wollen deutlich mehr Geld ausgeben, die Steuern sollen gesenkt werden. Geplant ist die Einführung einer Art Grundeinkommen, das Pensionsalter wird sinken.
Varoufakis: Bevor ich darauf antworte, ist es mir wichtig festzuhalten, dass all die gegenwärtigen Probleme Italiens nicht von der künftigen, in Wahrheit hochproblematischen Regierung zu verantworten sind. Die gravierenden Fehler wurden schon vor Jahren gemacht, angefangen bei Mario Monti, der unter Druck der EU und der restlichen europäischen Institutionen gestanden ist.
STANDARD: Mario Monti war Chef der Technokratenregierung zwischen 2011 und 2013. Was waren diese gravierenden Fehler?
Varoufakis: Die liberalen Eliten in Europa und Rom haben Italien eine harte Sparpolitik verordnet, die eine fatale Wirtschaftsdynamik ausgelöst hat, die das Land bis heute plagt. Wird der Giftcocktail der Austeritätspolitk einmal über ein Land ausgeschüttet, entkommt dem keiner mehr. Das lehrt die Geschichte. Was für mich nun offensichtlich ist und worüber sich die deutsche Regierung zu Recht große Sorgen macht, weil sie das nicht vorhergesehen hat, ist, dass Lega-Chef Salvini nun eine Politik umsetzen wird, deren Ziel es ist, einen schweren Konflikt mit der EU und der Eurozone auszulösen. Die geplanten Ausgaben der künftigen Regierung sind nicht vereinbar mit der Mitgliedschaft Italiens im Euroraum. Wird die bisherige Politik fortgeführt, wird Italien aber zur permanenten Stagnation verdonnert. Sie sehen, so oder so: Irgendwas muss sich ändern, oder die Eurozone wird auseinanderbrechen.
STANDARD: Hat Italien bessere Karten in der Hand als Griechenland in der Zeit, als Sie Finanzminister waren? Könnte Italien den Kurs in der Eurozone verändern, oder wird der äußere Druck auch Rom zum Einlenken zwingen?
Varoufakis: Mir scheint, dass es in Deutschland heute keine richtige politische Führung gibt. Angela Merkel hat ihre Dominanz der vergangenen Jahre verspielt. Sie ist heute eine sehr schwache Kanzlerin. Ich glaube daher nicht, dass Deutschland über den notwendigen Einfluss verfügt, damit unter seiner Führung eine Wende in der Eurozone gelingt. Da habe ich also wenig Hoffnung, ich hoffe, ich irre mich. Was Italiens Größe betrifft, ist es offensichtlich: Italien ist zu groß, um schikaniert zu werden. Italien ist auch zu groß, als dass es den Euro verlassen könnte, ohne dass die Eurozone als Ganzes kollabiert. Was nun stattfindet, ist eine Verschärfung jener Krise, die sich schon seit Jahren zusammenbraut und die mit dem Druck, der auf Griechenland ausgeübt wurde, begonnen hat. Wobei es zwischen dieser italienischen Regierung und der griechischen Regierung unter Alexis Tsipras einen ganz fundamentalen Unterschied gibt, was die Beziehungen mit Europa betrifft.
STANDARD: Und zwar?
Varoufakis: Weder Tsipras noch ich wollten die Eurozone jemals verlassen. Für Lega-Chef Salvini ist das dagegen eine Traumvorstellung. Das ist nicht meine Privatmeinung, Salvini sagt das seit Jahren.
STANDARD: Salvini hat das mit dem Euro-Exit lange gesagt, sich im Wahlkampf aber moderat gegeben. Denken Sie wirklich, er will Italien aus dem Euro führen?
Varoufakis: Natürlich gab er sich moderat. Aber die Lega und Salvini haben eine Präferenz dafür, dass Italien den Euro verlässt. Zugleich sind sie klüger als die Fünf-Sterne-Bewegung, die ein Referendum über die Euromitgliedschaft Italiens gefordert hat. Das ist eine sehr dumme Idee. Ein solches Referendum kann es nicht geben. In dem Moment, in dem ein solches Referendum wirklich angesetzt wird, würde eine massive Kapitalflucht einsetzen, und das jeweilige Land müsste den Euro schon vor der Abstimmung verlassen. Salvini hat das begriffen, deshalb spricht er darüber gar nicht. Aber er wird eine Haushaltspolitik umsetzen, die Angela Merkel und die deutsche Bundesbank in die Ecke drängen und sie zu der Entscheidung zwingen wird, die sie schon vor zehn Jahren hätten treffen sollen.
STANDARD: Welche Entscheidung?
Varoufakis: Entweder die Architektur der Eurozone wird umfassend reformiert, oder Italien wird aus der Eurozone ausscheiden, was letztlich dazu führen würde, dass im Euroraum nur noch ein paar Länder nördlich der Alpen und östlich des Rheins übrigbleiben.
STANDARD: Wie müsste die Eurozone umgebaut werden, damit Italien bleiben kann?
Varoufakis: Es geht nicht nur um Italien, es geht darum, die Eurozone insgesamt zusammenzuhalten. Die Deutschen müssen akzeptieren, dass sie nicht beides haben können: Sie können den Kuchen nicht behalten und ihn essen. Die Deutschen können nicht weiter gewaltige Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaften, viel mehr exportieren, als sie importieren, während viele andere Staaten mit hohen Defiziten kämpfen. Wenn Deutschland die Vorteile des Euro weiter genießen will, braucht die Eurozone ein gemeinsames Budget und einen demokratischen Prozess, der weit über die derzeit rein intergouvernementale Zusammenarbeit hinausgeht. (András Szigetvari, 22.5.2018)