Yanis Varoufakis, der linke Star, erzählt, wie die EU sein Land zu einer Kolonie gemacht hat.
Vor unseren Augen, nur wenige Flugstunden von uns entfernt – und in Europa – wird ein Land ruiniert, eine Bevölkerung in die Armut verfrachtet, politische Institutionen zerstört und ein einst souveräner Staat zu einer Kolonie von EU, EZB und IWF heruntergedrückt – oft erhält man den Eindruck, es fehlten im Bild nur noch EU-Truppen, die in Athen für Ruhe und Ordnung sorgten. Es ist auch eine beleidigende Geschichte. Wenn ich mich daran erinnere, wie wir einst die alten Griechen bewundert haben, dann ergreift mich Zorn und Melancholie zugleich.
Der heilige Euro
Als Gymnasiasten debattierten wir über dieses antike Volk, als ob unser Leben davon abhinge, es interessierte uns manchmal mehr als Ronald Reagan oder die Frage der Atomkraft. Die Griechen: diese Genies der Respektlosigkeit, die wohl die unterhaltsamste Religion aller Zeiten erfunden haben, wo der höchste Gott Zeus regelmässig fremdgeht, und dessen Gattin Hera es immer weiss und sich dutzendfach rächt, was Zeus zwar ärgert, aber nie abschreckt; diese Genies der Politik auch, die in Athen die chaotischste und direkteste Demokratie eingerichtet haben, die es je gab. Mit Ergriffenheit erzählte unser Geschichtslehrer davon – und wir litten mit ihm, wenn das athenische Volk seines Erachtens den falschen Politiker per Scherbengericht in die Verbannung schickte. Auch das lernte man damals in diesen elitären Kreisen: Dass das Volk nicht immer recht hat, dass es mitunter dumm ist.
Varoufakis ist alles andere als dumm, ein wilder Marxist, ein kluger Ökonom, der rechnen kann: Obschon ich seine Weltsicht seit Langem nicht mehr teile, was Griechenland und das Euro-Joch anbelangt, hat er recht von Alpha bis Omega. Schon lange müsste das Land in den Bankrott geschickt werden, und die westlichen Banken, die oft wider besseres Wissen eine korrupte Elite mit Krediten überschüttet haben, hätten dazu gezwungen werden müssen, ihre Schulden abzuschreiben. Das liess der Westen aber nicht zu, oft ebenso wider besseres Wissen – insbesondere dessen führende Politiker, die seit Jahren den Euro zu einer Frage ihres persönlichen politischen Überlebens gemacht haben. Fällt der Euro, fällt auch Merkel. Muss sie – oder müssen andere – ihren Bürgern gegenüber einräumen, dass sie mit dem Euro ein Kartenhaus errichtet haben und stützen, das irgendeinmal (am besten nach ihrer Amtszeit) einstürzen dürfte: Sie stürzten vorher.
Inzwischen haben sie zwar Griechenland in Trümmer gelegt, doch niemand hier im reichen Nordwesten des Kontinents scheint davon noch Notiz zu nehmen. Wenn die Politiker und Funktionäre der EU, der EZB und des IWF mit anderen Worten einen Erfolg für sich beanspruchen können, dann vielleicht diesen, unerträglichen: Dass es ihnen gelungen ist, uns zu langweilen. Wer zählt die Überbrückungskredite noch, die in den Süden fliessen, wer leidet mit den Griechen, was kümmern uns ihre überhöhten Renten?
Leben neben einem Pulverfass
Es lohnt sich deshalb, Varoufakis zu lesen. Als Massnahme gegen das Vergessen. Man beugt damit auch jener unangenehmen Einsicht vor, die sich oft zu spät einstellt, wenn die Welt schon in die Luft geflogen ist: Dass wir neben einem Pulverfass lebten und es nicht merkten. Ab und an, ich gebe es zu, kam ich mir bei der Lektüre von Varoufakis wie ein Mensch vor, der vor dem Ersten Weltkrieg lebt und die Geschehnisse auf dem Balkan beobachtet.
Wer die serbische Innenpolitik in jenen Jahren gut studierte, hätte vielleicht erkennen können, was sich dort zusammenbraute. Die grossen Katastrophen der Geschichte beginnen oft an der Peripherie, abseits des Interesses der grossen Zeitungen und der grossen Länder, warum nicht in Griechenland?
Demokratie von Fall zu Fall
Ein Zweites bestürzt: Die vollkommene Verachtung für demokratische Verfahren. Wenn man diese Minister und Funktionäre reden hört, wie sie Varoufakis darstellt, – und wir haben keinen Anlass, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln, manchmal stützt er sich auf Telefongespräche, die er mitgeschnitten hat –, dann fällt auf, wie wenig sich diese Politiker darum scheren, was das betroffene Volk will. Was immer die Griechen wählen, was immer sie entscheiden, ob sie streiken oder protestieren, ob sie verhungern oder Autos abfackeln: Es kümmert die Mächtigen in Brüssel und Berlin wenig, oder genauer, sie wissen es schon, sie nehmen es auch zur Kenntnis, vielleicht ärgert oder belästigt es sie sogar, gewiss hätten sie lieber Zuspruch, denn sie halten sich ja für Demokraten, aber im Zweifelsfall leben sie lieber als Gespaltene.
Wenn wir das psychologisch deuten: Sie ziehen die Schizophrenie vor, solange sie dazu dient, das Gute durchzusetzen. Beseelt vom Gedanken, eine bessere Welt zu schaffen – und der Euro ist Teil dieses Plans –, nehmen sie in Kauf, dass es auf dem Weg dorthin rumpelt und spritzt, knirscht und rattert – und hin und wieder jemand überfahren wird. Sie glauben, sie haben recht – auch wenn sie vor dem Gericht der öffentlichen Meinung oder bei einer demokratischen Wahl nicht recht bekommen. Was weiss das Volk schon?
Es ist dies ein Zug, den viele Mitglieder der globalen, technokratischen Elite teilen, die mittlerweile überall in westlichen Verwaltungen sitzen oder in internationalen Organisationen tätig sind: Im Grunde sind sie mit jeder Faser ihrer politischen Haltung davon überzeugt, besser zu wissen, was den Regierten gut tut, als diese selber. Wenn die Griechen nörgeln und quengeln: Das renkt sich wieder ein.
Wenn die Briten sich für den Brexit entscheiden: Sie wissen es nicht besser. Und überhaupt: Wird das je umgesetzt? Gouverner, c’est prévoir, von dieser Losung, die einst Emile de Girardin, ein linksliberaler französischer Verleger, geprägt hat, reden sie gerne, um sich zu rechtfertigen, wenn sie Dinge tun, die niemand will, oder über die wir noch nie abgestimmt haben. Sie sind zuversichtlich, klarer in die Zukunft zu blicken als wir, daher ist es auch nicht nötig, immer auf demokratische Entscheide Rücksicht zu nehmen. Haben es die alten Athener nicht ebenso oft bereut, dass sie den falschen Politiker ins Exil getrieben hatten? Völker können sich irren, deren Regierungen nie.
Yanis Varoufakis hat ein starkes Buch geschrieben, der britische «Guardian» nannte es gar eines der besten Memoirenbücher aller Zeiten. Es berührt und empört. Und man fragt sich: Wann wird in Europa die Demokratie wieder eingeführt? (Basler Zeitung)
Erstellt: 29.07.2017, 07:14 Uhr
https://bazonline.ch/ausland/europa/denn-sie-wissen-nicht-was-sie-tun/story/20569838