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"Merkel has no plan" – interviewed by Die Welt’s editor, Stefan Aust

16/08/2016 by

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A few weeks ago, Stefan Aust, Die Welt’s editor and formerly the heart and soul of Der Spiegel, paid me a visit at our Aegina house. We spoke for a good two hours on Europe, Germany, Greece and, of course, DiEM25. It was a serious, pleasant and at times passionate discussion. On 14th August the article-interview was published. For Die Welt’s site click here. (For the longer version of the interview, as published, in pdf form click: Page 1 & Page 2) Alternatively…

“Merkel hat keinen Plan”

Griechenlands Kurzzeit-Finanzminister Janis Varoufakis über verfehlte Flüchtlingspolitik, seine Gespräche mit Wolfgang Schäuble und eine Deutschlehrerin namens Fräulein Helga

Der Mann, der das Gesicht der griechischen Schuldenkrise war, serviert seinen Besuchern Pistazien aus dem eigenen Garten. Janis Varoufakis, Ex-Finanzminister Griechenlands und heute hauptberuflich als Kult-Ökonom und EU-Kritiker unterwegs, steht auf der Terrasse seines Ferienhauses, das auf einem Hügel der Insel Ägina liegt. Blick auf den hauseigenen Pool und die Ägäis. Etwa 50 Minuten sind es mit der Fähre zum Hafen Piräus in Athen. Es ist brüllend heiß. Varoufakis sagt, er komme oft hierher – neue Bücher, Reden schreiben. Für das Establishment der EU war der Ökonom, der plötzlich Politiker wurde, die größte vorstellbare Provokation. Als er im Juli 2015 zurücktrat, wurde das von Politikern und Medien mit Erleichterung kommentiert.

Welt am Sonntag:

Herr Varoufakis, es gibt keinen anderen europäischen Politiker, der in so kurzer Zeit so populär wurde wie Sie. In nur fünf Monaten als griechischer Finanzminister wurden Sie von den einen als politischer Rüpel, Macho und Hasardeur gescholten, von den anderen als Rock-Star der Ökonomie bejubelt. Was hatte Sie da eigentlich geritten?

Janis Varoufakis:

Glauben Sie mir, ich habe es nicht darauf angelegt. Im Grunde war es ganz simpel: Ich war nur deshalb gewählt worden, um “Nein” zu sagen gegenüber einer Austeritäts-Politik der EU, die gesetzt war. Mir war natürlich klar, dass es deshalb ständig Zusammenstöße und Widersprüche geben würde – zwischen mir und der Troika, und mit Wolfgang …

… Wolfgang Schäuble.

Ja. Und noch nie zuvor hatte es einen gewählten Finanzminister eines bankrotten Staates gegeben, der “Nein” zu den Kreditgebern gesagt hätte. Aber wenn man bankrott ist, kann man diesem Zustand nicht dadurch entkommen, indem man alte Kredite durch neue Kredite zurückzahlt. Sie können in der Situation keinen Bankrott erklären.

Weil die Euro-Gruppe Angst hatte, auf diese Weise andere Krisenländer zu ermutigen, es ähnlich zu machen?

Kein Land nimmt es als Anreiz, seinen Staatsbankrott zu erklären, nur weil es glaubt, sich auf diese Weise Erleichterung bei der Schuldenrückzahlung zu verschaffen. Wenn Sie zu dieser ohnehin schon aufgeladenen Situation noch all die trivialen Zuspitzungen meiner Person packen …

Ihre inzwischen legendären Auftritte in EU-Sitzungen ohne Krawatte, das Hemd über der Hose, mal in Lederjacke – und schließlich: Ihr Abschied vom Amt auf dem Motorrad. Das hat Ihnen schon Spaß gemacht, oder?

Ach, mit solchen Äußerlichkeiten, wie Sie sie jetzt auflisten, wurde meine politische Arbeit trivialisiert. Ich meine: Wen interessiert es, was ich trage oder nicht? Egal, so was ist nun mal Teil der zeitgenössischen Medien-Kultur. Leider. Dabei ging es doch um ein schwerwiegendes, reales Problem. Wir waren ein bankrottes Land, waren es schon seit vielen Jahren.

Das ist Griechenland noch immer, auch nach Ihrem Abgang.

Griechenland ist heute mehr denn je bankrott.

Unter deutschen Politikern waren Sie die größte vorstellbare Reizfigur. In Ihrem neuen Buch “Das Euro-Paradox” überraschen Sie mit der Enthüllung, schon immer eine besondere Verbindung zu Deutschland gehabt zu haben. Ihre Mutter hat Deutsch unterrichtet. Sind Sie tief in Ihrem Innern ein deutscher Grieche?

Tief in meinem Innern empfinde ich mich vor allem als Europäer. Und als Nahostler, denn mein Vater wuchs in Kairo auf, seine Mutter war Französin. Seine erste Sprache war Französisch. Er wuchs mit den Werken von Voltaire und Rousseau auf. Meine Mutter und ihr Bruder waren germanophil. Mein Onkel, dem ich sehr nahe stand, war viele Jahre der Chef der griechischen Dependance von Siemens. Er hat sich kulturell eher Deutschland als Griechenland zugehörig gefühlt. Und er hatte großen Einfluss auf mich. Meine Mutter begann Deutsch zu lernen, unterrichtete die Sprache später, sie liebte deutsche Literatur.

Sprechen Sie selbst Deutsch?

Nein. Dazu reicht es nicht, aber wenn ich es lese oder zuhöre, verstehe ich das meiste davon. Meine Mutter hat mich nicht selbst unterrichtet, aber sie sorgte dafür, dass ich eine Lehrerin hatte. Ich hatte zunächst Privatunterricht bei einem Fräulein Helga, das mich in Deutsch unterrichtete. Später dann Deutsch-Unterricht in der Schule. Ich wuchs mit Büchern von Goethe auf. Als Griechenland in den 60ern unter die Diktatur fiel, wurden mein Vater und mein Onkel inhaftiert. In meiner Fantasie war Deutschland so was wie ein guter Freund. Für meine Familie war Deutschland in dieser Zeit eine Quelle großer Unterstützung – das gilt besonders für meinen Onkel.

Inwiefern?

Die deutschen Siemens-Manager haben sein Leben gerettet, als er während der Diktatur inhaftiert war. Man hatte ihn mehrere Monate lang gefoltert. Ohne den Druck von Siemens aus Deutschland hätte man ihn nicht freigelassen, die Militärs hätten ihn exekutiert.

Während der Diktatur sind Sie im Sommer mit Ihrer Familie immer nach Süddeutschland in den Urlaub gefahren. War das für Sie eine Flucht?

Für meinen Vater und meine Mutter war das so. Ich selbst hatte die Lage damals nicht so empfunden. Ich war etwa zehn Jahre alt. Für mich als Kind war die Diktatur damals … aufregend.

Sie fanden die Diktatur aufregend?

Ja. Sie wissen doch, wie Jungs sind: Wenn ich Verwandte wie meinen Onkel im Gefängnis besuchte, war das irgendwie aufregend. Ich war von Stolz erfüllt, dass mein Onkel im Gefängnis saß. Denn ich wusste: Er war nicht festgenommen worden, weil er ein schlechter Mensch war oder etwas Schlechtes getan hatte. Mein Onkel war der Good Guy, die Bad Guys waren die Militärs in der Regierung. Wir fühlten, dass wir denen moralisch überlegen waren. Meine Verwandten gaben mir immer kleine Botschaften für meinen Onkel mit – und umgekehrt. Als Kind kam ich damit durch.

Sie waren so eine Art kleiner Spion.

Ja, und das war aufregend. Ich besitze immer noch ein Modell-Flugzeug, das mein Onkel für mich in der Haft aus Streichhölzern gebastelt und mir mitgegeben hatte. Er war ein Ingenieur, er konnte wunderbare Modelle bauen. Darin versteckte er dann immer Botschaften – für seine Frau und Freunde. In den Jahren der Diktatur war für meine Familie jemand wie Willy Brandt sehr wichtig. Für uns hier in Griechenland ist er bis heute die Verkörperung eines Freundes und eines guten Menschen. Willy Brandt war für mich wie ein Familienmitglied. Das Gleiche galt für Bruno Kreisky und andere europäische Politiker, die sehr stark darauf hinwirkten, dass das diktatorische Griechenland vom Europarat ausgeschlossen wurde.

Brandts politischer Enkel, Gerhard Schröder, hat 1999 dafür gesorgt, dass Griechenland in die Euro-Zone kam – trotz Warnungen von Ökonomen. Würden Sie Schröder auch als Familienmitglied bezeichnen?

Zwischen Willy Brandt und Gerhard Schröder liegen Welten. Aber ich habe ihn nie dafür gescholten, dass Griechenland mit seinem Zuspruch in die Euro-Zone kam. Meine Kritik hat sich immer gegen die damaligen griechischen Eliten gerichtet, die so übereifrig waren und unter allen Umständen den Euro wollten. Das war verkehrt, lächerlich und absurd. Damit fing die Krise im Grunde an, an deren vorläufigem Ende mein eigener Freund und Kamerad Alexis Tsipras im Juli 2015 auf gestrichelten Linien eine Vereinbarung für weitere Sparpläne unterschrieb, die falsch und absurd sind. Für die Deutschen wie die Griechen.

Sie meinen das dritte Hilfspaket für Griechenland. Die Sparvorgaben waren härter als alles, was im Referendum abgelehnt worden war – und sahen unter anderem eine Mehrwertsteuererhöhung und umfangreiche Privatisierungen vor. Sie hatten zuvor per Twitter Ihren Rücktritt erklärt.

Ja. Ich hatte es in all den Gesprächen zuvor immer als unsinnig und absurd bezeichnet, in einem bankrotten Land die Mehrwertsteuer zu erhöhen.

Sind Sie noch ein Freund von Tsipras?

Nein. Im Grunde waren wir nie Freunde. Eine Zeit lang dachte ich, wir wären dabei, Freunde zu werden. Um es deutlich zu sagen: Tsipras brach die Vereinbarung, die wir hatten.

Welche Vereinbarung?

Die Vereinbarung war: Wir sind gegen die Fortsetzung der Sparpläne gegen Griechenland, gegen die EU-Austeritätspolitik. Ich habe mich immer sehr darum bemüht, zwar die mangelhafte Struktur der Euro-Zone zu kritisieren, aber gleichzeitig dafür zu plädieren, sie nicht zu verlassen, sondern sie zu reformieren. Als ich Tsipras das erstmals vorschlug, hätte ich mir allerdings nie vorstellen können, dass ich selbst einmal in der Regierungsverantwortung stehen würde. Ich beriet ihn zu dem Zeitpunkt nur. Bis er auf mich zukam und mir sagte: “Ich möchte, dass du das machst, ich kenne keinen anderen außer dir, der das schaffen kann.” Ich war sehr zögerlich. Denn ich bin von Natur aus kein Politiker und mit meinem Akademiker-Dasein ganz zufrieden. Ich lebte und unterrichtete damals in den USA, mit meiner Frau und unserem Sohn. Ich gab das alles auf, kam zurück nach Athen, um diese Aufgabe anzupacken. Und kurz darauf merkte ich schon, dass er sich unserem Programm nicht so verpflichtet hatte, wie er es mir gesagt hatte. Am Ende hat er Verträge unterzeichnet, die genau das Gegenteil von dem beinhalteten, was wir ändern wollten.

Man könnte es auch Realpolitik nennen.

Wenn wir gewollt hätten, dass das eintritt, was jetzt geschehen ist – warum haben wir das nicht gleich den Konservativen überlassen? Die glaubten daran. Wir glaubten es nicht.

Treffen Sie sich noch mit Tsipras?

Nein. Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich würde ihn deshalb jetzt aber nie als persönlichen Gegner bezeichnen. Das ist nicht meine Art. Ich bin immer Gegner von unhaltbaren Zuständen. Nicht von Personen. Ich bin beispielsweise gegen das Privatisierungsprogramm in Griechenland, die Art, wie es vollzogen wird. Ich halte es für eine Verschwendung von Ressourcen.

Sie meinen die Privatisierung von Flughäfen und anderen öffentlichen Einrichtungen?

Ja. Ich weiß noch, wie ich Wolfgang fragte: “Mal ehrlich, würdest du je darüber nachdenken, alle Regional-Flughäfen in Deutschland an ein Unternehmen zu verkaufen – ohne dass regionale Regierungen daran beteiligt wären?”

Was hat Schäuble Ihnen geantwortet?

Nein. Das würde er nicht machen.

Wenn Schäuble Griechenland mit einem Grexit aus der Euro-Zone gedrängt und wenn Angela Merkel dem zugestimmt hätte – wo stünde Ihr Land dann heute?

Sehen Sie, wir hatten viele Unterhaltungen darüber. Ich habe ja sehr umfassend darüber geschrieben, was ich den Schäuble-Plan nenne – der ja nicht nur auf Griechenland abzielte, sondern auf die gesamte Euro-Zone.

Darin waren institutionelle Änderungen der Euro-Zone vorgesehen, unter anderem ein Haushaltskommissar mit Vetobefugnissen, der nationale Haushalte zurückweisen konnte.

Ja. Sein Plan hat Meriten, auch wenn ich inhaltlich nicht mit ihm übereinstimmte. Aber es ist immerhin ein Plan. Schäuble war der Einzige, der einen Plan hatte. Merkel hat keinen Plan. Hollande weiß nicht mal, was das Wort Plan bedeutet. Schäuble mag es, mit der Vorstellung von Brüchen zu spielen – Grexit, Brexit, um Spannungen aufzubauen, mit denen er beispielsweise Paris zwingen kann, sein Modell für die Euro-Zone zu akzeptieren.

Weil Merkel nur daneben sitzt und wartet?

Ja. Merkel würde nie eine Entscheidung treffen, wenn sie sie auf morgen verschieben kann und sich bis dahin anschaut, wie sich alles weiterentwickelt hat. Das ist sehr schlecht für Europa.

Sie haben oft gesagt, dieser Euro sei nicht zukunftsfähig, weil die EZB die Situation nicht unter Kontrolle habe und Europas Bankensystem fragmentarisch bleibe.

Das ist jetzt nicht Mario Draghis Schuld. Angesichts der Einschränkungen, die er hat, macht er das, was ihm möglich ist: Er kauft sich Zeit. Er druckt 80 Milliarden Euro im Monat. Das ist so, als würde man einem schwer Krebskranken Kortison geben. Kurzzeitig fühlst du dich besser – aber die Krankheit verschlimmert sich. Wir tun nicht das, was wir tun sollten – eine gemeinsame Investitionspolitik schaffen und eine gemeinsame Schuldenpolitik. Stattdessen reichen wir den schwarzen Peter an die EZB weiter.

So wie Sie reden, hört sich das nicht an, als würden Sie sich für den Rest Ihres Lebens aus der aktiven Politik verabschieden.

Ich habe mich ja keineswegs aus der Politik entfernt. Ich habe meinen Sitz im Parlament aufgegeben, um mich voll und ganz auf Politik konzentrieren zu können.

Klingt paradox.

Das ist nicht paradox. Wissen Sie, wie bürokratisch ein Parlament ist? Die meiste Zeit verbringen Sie in dummen Komitees, diskutieren Themen, die keine Konsequenz haben, Sie müssen aber dort sein, weil es zu Ihren Pflichten gehört. Sie machen sehr wenig Politik.

Vor ein paar Monaten haben Sie das europaweite Netzwerk “Democracy in Europe Movement 2025”, kurz DIEM25, mitgegründet, das Demokratiedefizite innerhalb der EU beheben will. Sie forderten mehr Transparenz, beispielsweise, dass Sitzungen des EU-Rates und der Euro-Gruppe live im Netz gestreamt werden sollten. DIEM25 machte mit Ihnen auch eine Kampagne gegen den Brexit – ohne Erfolg. Wie ernst nehmen Sie das Ganze?

Die schmerzhafte Lehre nach der Kampagne gegen den Brexit war, dass wir künftig eine deutlichere Botschaft brauchen – ohne uns dabei den Simplifizierungen der Rechten anzugleichen. Das ist die Aufgabe. Wir sind in Deutschland bislang mit 1200 Organisationen vernetzt, darunter viele kleine, die oft zehn bis zwölf Leute umfassen. Das Wichtige für uns ist, dies als Plattform zu nutzen, um Alternativen zu präsentieren. Wie gehen wir mit der Migration um, mit den Banken, Armut, Städteentwicklung? Das Schlimme an Angela Merkel ist, dass sie denkt, ihre Politik sei ohne Alternative.

Im Februar verblüfften Sie noch mit der Aussage: Wären Sie Deutscher, würden Sie Merkel wählen – wegen ihrer Flüchtlingspolitik.

Stimmt. Ich hatte das allerdings gesagt, bevor es im März zu dem Flüchtlingspakt zwischen EU und Türkei kam. Seitdem habe ich meine Meinung geändert. Dieser Deal mit der Türkei ist ein Skandal. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber den Vereinten Nationen, Flüchtlinge aufzunehmen. Stattdessen bestechen wir einen zunehmend diktatorisch auftretenden Präsidenten der Türkei, um es uns mit dem Deal zu erlauben, internationales Gesetz zu brechen.

Die Folgen des gescheiterten Putsches in der Türkei belasten auch die Beziehungen zu Griechenland. Acht türkische Soldaten und Offiziere baten in Griechenland um Asyl. Sie wurden zu zwei Monaten auf Bewährung verurteilt wegen illegaler Einreise. Erdogan drängt auf ihre Auslieferung. Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie es müssten?

Ich glaube an das Recht auf Asyl. Wenn jemand an Ihre Tür klopft, und Sie wissen, dass er gefoltert wird, wenn Sie ihn zurückschicken – dann schicken Sie ihn nicht zurück! Ich habe keine Ahnung, wer diese Soldaten sind, was ihre Motive sein mögen. Aber selbst, wenn Sie die schlimmsten Typen auf der Welt wären, dürfte man sie nicht dorthin ausliefern, wo ihnen Folter oder Schlimmeres droht.

Bei Tsipras ist die Angst groß, dass Erdogan den umstrittenen, aber wirksamen Flüchtlingsdeal platzen lässt, sollten die Soldaten nicht ausgeliefert werden.

Ich will, dass dieser Flüchtlings-Pakt kollabiert. Ich will nicht, dass wir mit Erdogan ins Bett gehen. Wenn der Deal platzt, werden wir in Griechenland wieder mehr Flüchtlinge haben.

Die Regierung sieht das weniger entspannt und schlägt schon Alarm: Sollten die Flüchtlingszahlen wieder auf das Niveau vor dem Pakt steigen, werde man nicht damit fertig.

Wissen Sie was, angesichts der Ausmaße der griechischen Finanzkrise machen ein paar Zehntausend Flüchtlinge mehr auch keinen Unterschied für das ökonomische System. Aus ökonomischer Sicht würde ich sogar sagen: Die Flüchtlingskrise hat Griechenland geholfen.

Wie meinen Sie das denn?

Viele Flüchtlinge kommen mit Geld nach Griechenland. Jene, die es überhaupt schaffen, Griechenland zu erreichen, haben Geld. Ich habe es selbst gesehen: Sie kommen vom Boot, gehen zu einem Bankautomaten und heben mit ihrer Karte Geld ab. Und sie geben das Geld auch aus. In unseren Läden. Das trifft natürlich nicht auf alle zu, aber auf viele.

Merkels Entscheidung, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, wird von vielen als Dammbruch kritisiert. Erst dadurch wären Hunderttausende überhaupt erst auf die Idee gekommen, sich auf den Weg zu machen. Mit anderen Worten: Sie hat die Realität komplett falsch eingeschätzt, mit inzwischen desaströsen Folgen für Europa.

In diesem Punkt verteidige ich Merkel nach wie vor. Weil ich überzeugt bin, dass wir eine moralische Verantwortung gegenüber Menschen haben, die vor Tod, Krieg und Terror flüchten. Und dieser Verantwortung müssen wir einfach nachkommen, aus humanitärer Verpflichtung – ohne dabei die Konsequenzen bis ins Detail im Blick zu haben.

Ist das jetzt wirklich realistisch?

Ich teile nicht diese Sicht, dass es uns ins Verderben stürzt, wenn Millionen Flüchtlinge ins Land kommen. Wir leben auf einem Kontinent mit 400, 500 Millionen Menschen. Wir können es verkraften, ein paar Millionen mehr aufzunehmen. Menschen verlassen nicht einfach so ihre Häuser, ihre Heimat, weil sie auf eine bessere ökonomische Zukunft aus sind. Ein Beispiel: Ich habe diesen 17-jährigen Jungen aus Afghanistan in Athen getroffen. Sein Vater hatte für die afghanische Regierung gearbeitet. Die Taliban hatten ihm gedroht, dass sie seinen Sohn entweder töten oder rekrutieren würden. Er hat sein Haus verkauft und seinen Sohn nach Griechenland geschickt. Was ist dieser Junge also? Ist er ein Wirtschafts-Flüchtling? Er ist ein Flüchtling, Punkt.

In Deutschland hat ein ebenfalls 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan mit einer Axt in einem Regionalzug mehrere Passagiere schwer verletzt. Er galt als gut integriert, lebte in einer Pflegefamilie – und hatte eine selbst gemalte IS-Fahne in seinem Zimmer.

Ja, ich habe davon gelesen. Ich glaube, dass der Mensch von Grund auf gut ist und dass es äußere Einflüsse sind, die ihn deformieren. Ich kenne diesen 17-jährigen Flüchtling in Deutschland nicht, vielleicht war er gestört, verwirrt, traumatisiert oder ein Krimineller. Wenn wir als Folge solcher Gewaltausbrüche unsererseits neue, härtere Maßnahmen gegen Flüchtlinge einführen, werden wir dann mehr Sicherheit haben? Vielleicht. Aber diese Verallgemeinerungen nach solchen Anschlägen greifen zu kurz. Die Terror-Anschläge in Paris, Belgien oder Nizza wurden vor allem von Menschen verübt, die seit Langem in Europa lebten oder hier geboren wurden.

Das ist richtig, macht aber den Angriff von Würzburg deshalb nicht zu einer vernachlässigbaren Randnotiz. Wie gehen Sie mit dieser Realität um?

Sie gehen in jedem Fall nicht damit um, indem Sie auf Flüchtlinge schießen, wenn sie an den Grenzen stehen. Das würde alles nur noch mehr verschlimmern. Sie stellen mir die große moralische Frage. Meine Antwort ist, trotz aller Probleme: Lasst die Flüchtlinge rein. Wir Europäer sind zum Teil mit verantwortlich für das, was in deren Herkunftsländern passiert. Und wir müssen akzeptieren, dass Menschen zu uns kommen. Wo immer wir neue Zäune und Mauern hochziehen – ob damals in Berlin oder jetzt zwischen Griechenland und Mazedonien – säen wir damit nur Zwietracht und zerstören die Idee von Europa.

Tut das auch der Brexit?

Ich habe mit mehreren Freunden in Großbritannien gesprochen, so wie ich es einschätze, steuern sie einen harten Brexit an. Raus aus der EU. Ich glaube nicht, dass Großbritannien künftig eine Verbindung mit der EU akzeptieren wird, in der es keine Kontrolle über die Einwanderung hätte. Ich bedauere das sehr, aber so sieht es aus. Der Brexit wird den Prozess des Zerfalls der EU noch beschleunigen. Wir werden alle leiden.

Wie lange wird der Euro noch existieren?

Unmöglich vorherzusagen. Die EU ist reich genug, weiterhin gutes Geld in ein schwarzes Loch aus unhaltbaren Schulden und Bankverlusten zu werfen. Wir verschwenden weiter unsere europäischen Energien, indem wir den Euro so belassen, wie er ist. Heute sind wir viel schwächer, als wir es 2010 noch waren.

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